Ist die multikulturelle Erziehung gescheitert?
GASTKOMMENTAR VON MARIAN HEITGER (Die Presse) 14.11.2001
Wer keinen eigenen Standpunkt hat, kann sich nicht mit anderen Kulturen auseinandersetzen.
Der Autor ist
Erzehungswissenschaftler und lehrte an der Wiener Universität.
Immer wenn sich die Gesellschaft in besonderer Weise herausgefordert sieht, richten sich Hoffnungen und Erwartungen an die Pädagogik, an Schulen und Bildungseinrichtungen. Sie sollen die gesellschaftlichen Probleme nach Möglichkeit lösen. Man fordert politische Bildung, Friedenserziehung, vieles andere - und seit Jahren auch multikulturelle Erziehung.
Die sogenannte Globalisierung führt Menschen mit verschiedenen Weltanschauungen und Kulturen zueinander. Gegensätzliche Auffassungen prallen aufeinander, erzeugen Konflikte und nicht selten gewalttätige Auseinandersetzungen. Multikulturelle Erziehung wurde propagiert und alsbald zu einer Forderung, die in keinem Bildungsprogramm fehlen durfte. Schon Kindern und Jugendlichen sollte bewußt werden, daß es mehrere, verschiedene Kulturen gibt, daß mehrere Religionen und Religionsgemeinschaften sich um das Heil der Menschen kümmern, daß die Stellung von Mann und Frau in den einzelnen Kulturen sehr verschieden sein kann; die Auffassungen von Tod und Sterben, und vieles Andere auch. Von der multikulturellen Erziehung wurde und wird erwartet, daß sie Verständnis für das Andere und den Anderen weckt, die Toleranz gegenüber kulturellen Eigenarten des Fremden erzeugt, schließlich auch Grenzen und Unvollkommenheit der eigenen kulturellen Objektivationen deutlich macht, und so zur Bereicherung des eigenen Bewußtseins führe.
Der Terroranschlag auf Amerika scheint das in Frage zu stellen. Denn dieser Terrorakt ist zumindest auch durch kulturelle und wirtschaftliche Gegensätze bestimmt: Der westlich-kapitalistische auf Konsum ausgerichtete Hedonismus, Beachtung von Demokratie und Gleichheitsrechten gegen autoritäre Systeme, gegenüber dem strengen aufs Jenseits gerichteten Glauben mit seinen radikalen Geboten und Ansprüchen. Schon diese Gegenüberstellung zeigt, daß es mit bloßer Toleranz, mit der Relativierung des eigenen Standortes, mit harmonisierendem Zusammenleben, mit der vielfach verkündeten gleichen Gültigkeit aller Kulturen, mit organisierten Begegnungsfesten nicht getan ist. Das alles führt eher zu einem gleich-gültigen Tolerieren, das - nicht ganz zu Unrecht - als verschwiegene Überlegenheit verstanden wird und Aggressionen auslöst.
Wenn multikulturelle Erziehung zur Bildung des Menschen in bezug auf seine soziale Haltung beitragen will, zu jener Bildung, die den anderen ernst nimmt, ihn als mir grundsätzlich Gleichen anerkennt, dann darf sie die wirkliche, d. h. in Argumenten zu führende Auseinandersetzung nicht fürchten. Dann muß sie bei aller Gleichheit des Menschen auch deren kulturelle Ungleichheit sehen - und ernst nehmen. Eine oberflächliche alle Menschen umfassende Toleranz, die alles und jedes gleichermaßen wertet, ist eher kontrafaktisch. Sie fördert die beziehungslose Gleichgültigkeit. Wer zum gegenseitigen Verständnis der Menschen auch aus anderen Kulturen beitragen will, der erziehe zu jenem Dialog, der sich nicht scheut, einen eigenen Standpunkt zu haben.
Multikulturelle Erziehung ist Mode und Tabu. Aber vielleicht sollte man sich überlegen, ob nicht jede Erziehung zunächst der eigenen Kultur verpflichtet ist. Erst von einem eigenen Standpunkt aus kann man andere verstehen, sich mit ihnen friedlich auseinandersetzen. Das aber lernt man auch in der intrakulturellen Auseinandersetzung, in jedem guten Unterricht. Jene aber ist die Voraussetzung für die nicht zu bestreitende Notwendigkeit einer interkulturellen Erziehung.